Nachdem sich Neelie Kroes, die EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, in der Libération gegen die Netzneutralität ausgesprochen hatte, gab der grüne Nationalrat Balthasar Glättli Newsnetz/Tribune de Genève ein kritisches Interview. Hier die deutsche Variante.
Herr Glättli, wie bewerten Sie die Haltung, die Neelie Kroes, die EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, in einem Beitrag in der französischen Libération, vertrat?
Glättli: Ich finde diese Haltung sehr problematisch. Neelie Kroes spricht sich für die Schaffung eines Zwei-Klassen Internets aus und stellt damit klar die Netzneutralität zur Disposition. Mit der Netzneutralität vereinbar sind Differenzierungen des Internetanschlusses nach der Bandbreite: hier kann der von Frau Kroes gewünschte Wettbewerb weiter spielen! Ein Wildwuchs an unterschiedlichen Internetzugängen mit verschiedensten Einschränkungen ist dagegen auch aus KonsumentInnensicht nicht wünschbar. Wichtig ist, dass bei jedem Angebot, bei dem «Internet» draufsteht, auch das ganze Internet, unzensiert und mit Zugang zu allen Anwendungen, drauf ist!
Muss man sich Sorgen machen, dass dies nicht der Fall ist?
Glättli: Die Netzneutralität ist bereits heute in Europa für etwa 20% der Anwender nicht gewährleistet (vgl. Bericht der BEREC, A view of traffic management and other practices resulting in restrictions to the open Internet in Europe, 29 May 2012, Seite 8). Die meisten betreffen Einschränkungen von Peer-to-peer Verkehr oder die Blockade von VoIP bei Mobilfunkverbindungen. Aber auch weitere wettbewerbsfeindliche Diskriminierungen sind Tatsache: Über Neujahr hat in Frankreich der zweitgrösste Provider free eine neue Form der Diskriminierung eingeführt, indem er willkürlich Werbungen einzelner Websites blockierte!
Notwendig wäre also vielmehr eine gegenteilige Haltung: Ich hätte von Kroes erwartet, dass sie die bessere Sicherung der Netzneutralität fordert, statt deren Abschaffung zu unterstützen.
Weshalb wollen Sie die Netzneutralität in der Schweiz gesetzlich verankern?
Glättli: Der Ergänzungsbericht des Bundesrates zur Evaluation des Fernmeldemarktes vom 28.3.2012 benennt das Problem klar: In der Schweiz gibt es keine gesetzliche Handhabe im Falle der Verletzung der Netzneutralität. Internetzugangsprovider könnten heute jederzeit Anwendungen verlangsamen oder blockieren. Dies bedroht nicht nur die Informations- und Meinungsfreiheit, sondern auch die Innovationskraft und den Wettbewerb rund um Internetanwendungen und Inhalte. Es darf nicht sein, dass Zugangsanbieter, die selbst auch Inhaltsanbieter sind, ihr Oligopol im Zugangsbereich ausnutzen, um Konkurrenten im Inhaltsbereich zu diskriminieren!
Die Schweizer Operatoren sagen heute von sich, dass sie das Prinzip der Netzneutralität befürworten – trauen Sie ihnen nicht?
Glättli: Bereits heute kenne ich zwei konkrete Beispiele, in denen die Netzneutralität in den Vertragsbedingungen unterlaufen wird: Cablecom behält sich in ihren AGB vor, zwischen 16h und 24h den Austausch grosser Datenmengen via Peer-to-Peer und den Betrieb von Gameservern einzuschränken oder zu blockieren . Das Angebot «sunrise 24» weist in den Rechtlichen und allgemeinen Hinweisen am Schluss der Tarifdetails explizit darauf hin, dass VoIP und Tethering verboten sind. Ob diese Restriktionen konkret umgesetzt werden, weiss ich allerdings nicht.
Ich bin natürlich nicht unglücklich, wenn die Operatoren sagen, die Netzneutralität sei in der Schweiz faktisch nicht in Gefahr – zufrieden kann ich aber erst sein, wenn auch alle Vertragsbestimmungen gestrichen werden, welche eine Verletzung der Netzneutralität ermöglichen würden.
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